[Review Nr. 7] – First Class: Unterwegs im Orient Express

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In der Gesellschaft befindet man sich mit einer großen Begeisterung für Eisenbahnen definitiv in einer Randgruppe. In der Randgruppe der Brettspieler befindet man sich mit einer Begeisterung für Eisenbahn-Spiele inzwischen definitiv im Mainstream. Bereits 1984 gewann mit Dampfross ein Eisenbahn-Spiel den Titel Spiel des Jahres. 2004 folgte mit Zug um Zug eines der gerne als “moderner Klassiker” bezeichneten Zugpferde der Spielebranche. Spätestens seit dem Vielspieler-Highlight Russian Railroads (Deutscher Spielepreis 2013) und dem verrückt-chaotischen Zugraub-Spiel Colt Express (Spiel des Jahres 2014) sind Brettspiele mit Eisenbahn-Thematik nicht mehr wegzudenken. Und jetzt ist mit First Class: Unterwegs im Orientexpress ein weiteres Eisenbahnspiel erschienen, das mit dem Beeple-Award und dem Hunter&Cron-Patreon-Award für das beste Kennerspiel bereits die ersten Preise einheimsen konnte. Ob weitere Preise dazu kommen wird sich in der zweiten Jahreshälfte zeigen.

Bei First Class handelt es sich im wesentlichen um ein Kartenspiel. Da aber viele der Karten in mehreren Reihen an die Spieler-Tableaus angelegt werden und man anschließend mit seinen Figuren darüber läuft, fühlt es sich eher wie ein Brettspiel an. Angetrieben wird das Spiel durch eine gemeinsame Auslage von Aktionskarten aus der jeder Spieler im Laufe der insgesamt 6 Runden genau 18 Karten nimmt. Durch diese Karten bauen die Spieler neue Waggons an ihren Zug an, werten diese zu besseren Waggons auf, bewegen ihren Schaffner einmal quer durch den Zug und den Zug selbst auf der Strecke entlang. Nach jeder 2. Runde findet eine Wertungsphase statt in der die Spieler Boni für erreichte Ziele auf der Strecke und Punkte für vom Schaffner erreichte Waggons erhalten. Nach der 3. Wertungsphase gibt es noch eine kurze Schlußwertung und danach gewinnt der Spieler mit den meisten Punkten.

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Seinen Reiz zieht das Spiel aus den Kettenreaktionen, die in jeder Wertungsphase länger werden und die einem manchmal mehr Aktionen ermöglichen als man selbst für möglich gehalten hat. Während man in der ersten Wertungsphase oft sogar im einstelligen Punktebereich landet, sind es bei der zweiten Wertung schon gut und gerne mal 30, 40 oder 50 Punkte. In der dritten Wertungsphase hat man dann das Gefühl, dass die Punkte regelrecht explodieren. Es kann durchaus vorkommen, dass man hier mehr als 2 komplette Runden um die 50 Felder lange Siegpunktleiste dreht. Dadurch entsteht bei den Spielern ein unglaublich positives Spielerlebnis und man hat den Eindruck für jede vorher getätigte Aktion noch mal belohnt zu werden. Selbst nach einer klaren Niederlage geht man mit dem Gefühl aus der Partie etwas tolles aufgebaut zu haben. Dadurch war sowohl ich selbst, als auch nahezu jeder meiner bisherigen Mitspieler bereits nach der ersten Partie restlos begeistert von First Class.

Auch der Wiederspielreiz ist bei First Class ziemlich hoch. Durch die sich immer veränderte Auslage und die vielen Möglichkeiten an Siegpunkte zu kommen, möchte man viele unterschiedliche Strategien ausprobieren. Dazu sorgen insgesamt 5 Karten-Module von denen bei jeder Partie nur 2 zum Einsatz kommen für stark unterschiedliche Spielerlebnisse und somit für Abwechslung. Auf diese Module werde ich später noch mal näher eingehen.

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Der Einstieg in das Spiel sollte mit ein bisschen Spielerfahrung kein Problem sein. Die Regeln sind relativ schnell erklärt und zudem sind die verwendeten Symbole alle ziemlich eingängig und lassen nur wenige Fragen offen. Dennoch ist das Spiel eindeutig ein Kennerspiel und ein Gelegenheitsspieler wird wahrscheinlich in seiner ersten Partie gegen seine Brettspiel-süchtigen Freunde nicht sehr hoch gewinnen. Das Spiel eignet sich aber durch das trotzdem positive Spielerlebnis in der Erstpartie sehr gut als Türöffner um den ein oder anderen Gelegenheitsspieler süchtig zu machen 😉

Besonders zu loben ist auch, dass First Class: Unterwegs im Orient Express in jeder Spielerzahl (2 bis 4 Spieler sind möglich) gleich viel Spaß macht. Der Aufbau ist immer absolut identisch, der einzige Unterschied ist, dass die Reihen mit den Aktionskarten bei weniger Spielern früher abgeräumt werden. Selbst zu viert fällt die natürlich entstehende Down-Time lange nicht so unangenehm auf, wie bei anderen Aktions-Auswahl-Spielen.

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Auch beim Spielmaterial gibt es nicht viel zu meckern. Die Karten sind recht klein – das ist aber auch gut so, da der Spielbedarf so schon enorm ist. Pappmarker, Holzteile und Spielertableaus sind alle auf dem gewohnten Niveau. Lediglich die Anzahl der Waggon-Karten mit dem Wert 0/1 hat bei der ein oder anderen Partie nicht ausgereicht. Zudem gibt es endlich mal ein Inlay in das man das Spielmaterial sortieren kann. Dieses ist aber leider nicht perfekt: es passt zwar alles gut rein, doch beim Transport schüttelt es das Material doch gehörig durcheinander und nicht alles bleibt an seinem Platz.

Abschließend möchte ich noch kurz auf die verschiedenen Module eingehen. Modul A und B werden für die erste Partie dringend empfohlen und sind für den Einstieg gut geeignet. Besonders das Modul A (“Die Aufträge”) ist im Prinzip das Standart-Modul, denn es führt Aufträge ein, die auch in alle anderen Modulen – wenn auch ich deutlich geringerer Anzahl – vorkommen. Aufträge haben immer eine Vorraussetzung, die erfüllt werden muss um die angegebene Belohnung zu erhalten. Diese Belohnungen sind meist etwas stärker als Aktionen die direkt gewählt werden. Das Modul B (“Berühmtheiten und Postkarten”) bringt Karten ins Spiel, die den Wert eines Waggons verdoppeln oder den Spieler den Effekt einer Zugstrecken-Karte zwei Mal pro Wertungsphase nutzen lassen.

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Sehr ungewöhnlich wird es mit Modul C (“Wer ist der Mörder?”). Hier wird tatsächlich der Mord im Orient Express nachgespielt. Thematisch passt das natürlich perfekt, mechanisch ist es aber für ein Euro-Game wie First Class sehr ungewöhnlich. Jeder Spieler bekommt am Anfang des Spiels eine verdeckte Rollen-Karte zugeteilt. Drei Karten sind harmlos, aber hinter einer verbirgt sich der Mörder. Der Mörder bekommt am Ende des Spiels 20 Siegpunkte, muss sich aber auch 2 Beweis-Marker nehmen. Diese Marker, auf denen in der Regel 1-3 Fingerabdrücke sind, versucht man zu vermeiden, denn wer am Spielende die meisten Fingerabdrücke hat scheidet aus und kann das Spiel nicht mehr gewinnen. Dadurch kommt eine interessante Komponente ins Spiel. Man muss immer abwägen wie viele seiner wertvollen Aktionen man opfert um den Gegnern Beweise unterzujubeln oder eigene Beweise zu beseitigen. Dieses Modul bringt tatsächlich ein komplett anderes Spielerlebnis, das ich allerdings nur in einer 4er-Runde empfehlen kann. Ein Grund ist, dass es in einer 2er- oder 3er-Runde vorkommen kann, dass es gar keinen Mörder gibt, da immer alle 4 Rollen-Karten gemischt werden. Dadurch fehlt ein wichtiger Motor, der das Verteilen der Beweis-Plättchen ins Rollen bringt. Außerdem führt dieses Modul in einer 2er-Partie dazu, dass der Rest des Spiels völlig unwichtig wird und es nur noch darum geht weniger Beweise als der Gegner zu haben. Dadurch ist Modul C für 2 Spieler de facto nicht spielbar. Hier hätte ich mir einen Hinweis in der Anleitung gewünscht, den gibt es jedoch nicht. Für 4er-Runden gilt aber: probiert es auf jeden Fall mal aus, auch wenn ihr skeptisch sein solltet!

In Modul D (“Passagiere und Gepäck”) wird es wieder etwas gewöhnlicher. Die Karten dieses Moduls werden wie bereits die aus Modul B unter die einzelnen Waggons gelegt und bringen Geld (Passagiere) und Punkte (Gepäck) mit. Weil bei jedem neuen Passagier oder Gepäck auch alle vorherigen Geld bzw. Punkte bringen, wird der Effekt dabei immer stärker. Modul E (“Weichen und Mechaniker”) ist sicherlich das anspruchsvollste und daher nicht so gut für den Einstieg geeignet. Die Karten dieses Moduls werden in den Raum zwischen den beiden Zügen gelegt. Die Mechaniker stellen eine Art Mini-Auftrag dar, der sich immer auf eine bestimmte Karte bezieht. Die Weichen bringen in den Wertungsphasen Bonuspunkte, wenn ihre Bedingungen erfüllt sind.

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Fazit: First Class ist ein erstklassiges Kennerspiel, dass von der ersten Partie an Spaß macht. Mit dem schnellen Einstieg und der durch die Module anpassbaren Schwierigkeit ist das Spiel sowohl für Gelegenheits- als auch für Vielspieler interessant. Das überragende Spielgefühl macht First Class zu einem Mitfavoriten wenn im Juli das Kennerspiel des Jahres bekannt gegeben wird.

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